Christin Müller-Wenzel – Zum Werk von Natalia Berschin

Christin Müller-Wenzel
Zum Werk von Natalia Berschin

20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas wächst in Deutschland zunehmend die Neugier darauf, zu erfahren, welche Haltungen die Künstler zwischen Berlin und Moskau heute einnehmen.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Neuorientierung der Gesellschaft hin zum Kapitalismus in Russland suchten die Künstler nach einer neuen Selbstbestimmung.
Die vor 1991 den Alltag beherrschende Politisierung und die Zensur fehlten plötzlich. Die Künstler widmeten sich intensiv Reflexionen über die Natur und der Funktion von Kunst, mussten aber schnell erkennen, dass Kunst nicht ohne einen Markt und ohne Zeitkritik sein kann. Materielle Probleme, Statusverschiebungen sowie fehlende finanzielle Mittel für Kunsthochschulen und Kunstinstitute führten u.a. dazu, dass viele Künstler Russland verließen.
In den 1990er Jahren war in Russland ein Heranwachsen für künstlerischen Nachwuchs schwierig, berufliche Chancen eröffneten sich eher in der Wirtschaft, der Politik und anderen Bereichen. Zum Jahrtausendwechsel änderte sich allmählich die Situation in der Kunst. Es bildete sich ein Kunstmarkt in Russland heraus, es entstanden neue Galerien und staatliche Institute, die sich mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen. Eine neue junge künstlerische Elite stellt sich heute erfolgreich dem Wettbewerb auf dem internationalen Kunstmarkt.
Natalia Berschin, 1976 in Minsk geboren und aufgewachsen, entschloss sich im Jahr 1998 ihre Heimat zu verlassen. Sie blickt mit Abstand auf ihr Land und die Situation in Weißrussland.
Berschin will mit ihren Werken keine Analysen gesellschaftlicher Entwicklung entfachen, aber sie will mit Hilfe der Kunst, die auf Empfindungen basiert, auf kritische Weise zum Nachdenken anregen. Dabei leugnet sie ihre Herkunft nicht und wird somit zur Vermittlerin sowie zu einer Im- und Exporteurin von geistigen Werten.
Die junge russische Kunst spiegelt die Situation eines neuen Russlands wider, die Situation eines Landes, das eine Umbruchzeit überwunden hat und Stabilität sucht. Aus diesem Grund ist es auch nicht unverständlich, dass sich neue Ideologien und Denkweisen in den Werken der Künstler festmachen.
Historisch betrachtet lag der ideologische Höhepunkt der realistischen Kunsttheorie in der Ära Stalins im sozialistischen Realismusmodell. Diese Kunsttheorie geht auf Wladimir I. Lenins Gedanken zurück. Demzufolge begründet sich jedes Kunstschaffen aus einer Abhängigkeit von der sozialen und ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft.
Während jedes einzelnen Arbeitsprozesses entwickelt sich notwendigerweise eine geistige Erkenntniswelt, die sich auch in künstlerischen Bildern widerspiegeln sollte. Die nachrevolutionäre russische Kunst entsteht somit aus einem unumgänglichen Zweck heraus, der letztendlich mittels gesellschaftlichen und parteilichen Intentionen zu einem sozialistischen Realismusmodell führte. Definitive Züge erhält diese Kunstrichtung Anfang der 1930er Jahre.
Künstlerinnen wie Natalia Berschin greifen diese Traditionen realistischer Motive im 21. Jahrhundert wieder auf, verleihen ihnen aber ganz eigene individualistische Züge.
Sie sehen hier in der Ausstellung 30 Arbeiten der Künstlerin die einen Zeitraum von vier Jahre umfassen. Angefangen bei dem Zyklus „Stadtgeschichten“, dessen Bilder wie Momentaufnahmen wirken, über die Serie „Wasteland“, die sich mit aktuellen Debatten der Energiegewinnung und mit den Folgen der atomaren Katastrophe in Tschernobyl auseinandersetzt, sind, bis hin zu den „Zeiträumen“, auch ganz aktuelle Arbeiten präsentiert. Natalia Berschin geht es in ihren Bildern um Mehrdeutigkeiten, um Spannungsfelder aus Schönheit, Vertrautheit, Destruktion und Irritation.
Als Betrachter der „Stadtgeschichten“ werden sie noch mit Gegenwärtigem konfrontiert und dazu angeregt sich ihre eigenen Gedanken über die Schicksale der porträtierten Menschen zu machen.
Berschins Werke der Serie „Wasteland“ allerdings thematisieren im Kern die Frage nach der Zukunft des Menschen in einer gänzlich technisierten, atomarisierte Welt. Sie stellt hier die Ereignisse in Tschernobyl zur Diskussion und bindet uns als Betrachter mittels Selbstanalyse in den eigentlichen Prozess der Entstehung des Kunstwerks mit ein. Als Kind hatte sie das Unglück selbst erlebt, wenn auch in Minsk und in einer gewissen Entfernung. Jedoch ließen sie die Gedanken nie mehr los. Ihre Diplomarbeit schrieb Natalia Berschin über den UdSSR-Film „Starker“, der 1978 von Andrej Tarkowski produziert wurde.  
Unter der Führung des „Stalkers“, eines Pfadfinders und Ortskundigen, der am Rande der Welt in einer vom Verfall gezeichneten Industrielandschaft lebt, begeben sich ein Wissenschaftler und ein Schriftsteller in die mysteriöse „Zone“, wo es angeblich einen Ort geben soll, an dem die geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen. Tarkowskij benutzte eine Science-Fiction-Vorlage als Hintergrund für mystisch-philosophische Reflexionen und schuf einen Film der fast wie als Orakel für die Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl gelten kann.
In eindrucksvollen, surrealen Bildern zeigt uns nun Natalia Berschin ihre Sicht zu diesem Thema. Bei aller emotionalen Nähe gelingt es ihr dabei jedoch den Blick neutral zu halten.
Dem Bild „Verlassenes“ Haus wohnt eine werkwürdige melancholische Ruhe inne. Nur noch stelzenartige Pfosten scheinen es zu halten. Jeder Schatten im Bild fehlt. Überall gleißendes, künstliches Licht. Auf anderen Bildern sehen sie Technikschrott von Fahrzeugen und auch Helikoptern. Man fühlt sich fast wie auf einem Maschinenfriedhof und das Bild „An der Natur“ scheint nun ganz und gar in der Manier des Ultraismus geboren.
Die Künstlerin umschreibt in ihren Werken verschiedene Bildwelten von bestürzender Dichte, die vollkommen und in schlüssiger Formensprache erscheinen – aus innerster Notwendigkeit geboren. Geschichten laufen vor unseren Augen ab, denn längst hat sich die Natur die kleinen Dörfer um Tschernobyl zurückgeholt.
Wir sind somit Zeuge von Szenarien, also Betrachter, Voyeure, Blicken auch in die Augen von Kindern und schauen in ihre Seelen, sind Gegenstand und Zuschauer auf der Suche nach Phantasie oder Realität. In jedem Bild ist die Anwesenheit einer nichts weniger als existentiellen Frage spürbar: manchmal in still, abwartender Verhaltenheit, manchmal in höchst gesteigerter Expressivität.
Diese Formenstrenge, der atmosphärisch sichere Umgang mit Räumen und Fensteraus- und Durchbrüchen ermöglicht uns eine Tiefe aber Distanz, zum Teil sogar Freude über die außerordentliche Bild- und Gestaltungskraft. Es erwächst daraus die Möglichkeit sich in Natalia Berschins Bildern wieder zu finden, sie anzunehmen, die ernsten Visionen nicht nur zu ertragen, sondern sie zu bewundern. Der Mut der Künstlerin, sich ihren Einsichten, Weltspiegelungen und den daraus hervordrängenden Bildfolgen zu stellen, sie zu äußern, teilt sich uns mit, fordert uns heraus. Auch in fast rein abstrakter Manier schafft Natalia Berschin mit den „Zeiträumen“ eigene, freie Kompositionen geboren aus Farbempfindungen, Klängen von Linien und Flächen im Raum.
Dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges nach, liegt die befreiende Wirkung der Kunst in ihrer einzigartigen Fähigkeit gegen die Welt zu träumen. Genau diese Philosophie spiegeln die Arbeiten der Künstlerin, in ihrer Thematik surreal, wider.
Die Werke von Natalia Berschin zeigen, welches künstlerische Potential und welche große Kreativität und auch Kritikfähigkeit, anknüpfend an eine lange vielschichtige kunstgeschichtliche Entwicklung in Russland, heute entstanden ist.
Die junge russische Kunst trägt die Chance in sich, Brücken, eines vielen Westeuropären immer noch fremden Russlands, in das alte Europa zu schlagen.

Christin Müller-Wenzel